Rotraud A. Perner

Abschied von der Kontroll-Lust?

gekürzt erschienen in: Die Furche, 15-09-2016

Sexuelle Erregung erregt. Die einen lassen sich davon freudig oder peinlich anstecken, die anderen „verschieben“ von unten nach oben: Sie empören sich. Dann verschieben sie diesen Kraftzuwachs wieder nach unten und bauen Schranken und Einschränkungen, Gebote, Verbote und hoffen damit auf die rechte Zucht für sich und andere.

„Zucht“ symbolisiert nicht nur die Vorstufe zu der Art von Züchtigung, wie sie vor allem Frauen traf, die zu „züchtigen Hausfrauen“, wie sie Friedrich Schiller im Lied von der Glocke propagierte, herangezüchtet werden sollten. Das Wort Zucht lässt aber auch die Folgen der verengt selektiven Übersetzung von Genesis 1,28 („Seid fruchtbar und mehret euch“) in rein quantitativem Sinn erahnen – anstelle einer umfassenden, daher qualitativen Interpretation[1] – und liefert damit eine religiöse Begründung für eine Ideologie von Fortpflanzungspflicht. Demgegenüber umfasst das Wort Unzucht alle sexuellen Aktivitäten, die zur Fortpflanzung führten; gewaltsame Schwängerung wurde aber als Notzucht vielfach verharmlost. Besonders strikt zeigte sich diese Geisteshaltung in der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus. So schrieb der seinerzeit renommierte Strafrechtsprofessor W. Sauer 1933, Notzucht „hinterlässt in ihrer gesunden Lebensäußerung bei dem widerwärtigen Schmutz der Unzuchts- und allgemein der Ausbeuter- und Spannergruppen wenigstens einen Lichtblick in eine gesunde Zukunft.“, und „Der durch solch ein Delikt entstehende Schaden ist oft gering; vielfach wird aus der befürchteten Sozialschädlichkeit deren Gegenteil: Die geschlechtliche Vereinigung junger kraftstrotzender Menschen in heißen Verlangen des Augenblicks nach unmittelbar vorausgegangenem Kampf erzeugt erfahrungsgemäß vielfach gesunde, kräftige Kinder, durch die unser Volkstum wertvoll bereichert wird.“[2]

Der Führer brauchte Soldaten und Verwaltungsbeamte für die besetzten Länder. Diesem Appell widmete sich nicht nur die Blut-und-Boden-Propaganda sondern auch die Gerichtsbarkeit. Wer sich der Zwangsfortpflanzung – oder umgekehrt, dem Fortpflanzungsverbot – widersetzte, lief Gefahr als Asoziale, Volksschädlinge und damit Staatsfeinde in den Vernichtungslagern zu „verschwinden“.

Entsublimierung als  Paradigmenwechsel

Mit dem Entsetzen der Erkenntnis in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, welch inhumaner und verbrecherischer Gesinnung breite Bevölkerungskreise Zustimmung und Unterstützung gegeben hatte, wurden nicht nur die Indoktrinationen des NS-Regimes, sondern auch die der römisch-katholischen Kirche kritisch hinterfragt. Der aufblühende Wissenschaftszweig Soziologie und hier vor allem die sogenannte Frankfurter Schule lieferte dazu das theoretische Rüstzeug, Machtbestrebungen und Machtmissbrauch zu enttarnen – und wendete dies eben auch hinsichtlich der klandestinen Sexualpolitik an. Man durfte auch wieder die „verbrannten“ Schriften jüdischer Autoren lesen – vor allem die von Sigmund Freud und Wilhelm Reich. Letzterer vertrat die Sichtweise, dass mittels einer repressiven – nämlich nur verbietenden – Sexualpädagogik vor allem Angst vor Strafe und Flucht in stummen Gehorsam und letztlich Krankheit „gezüchtet“ würde. Die animierte Leserschaft schloss daraus, dass Verwerfung von traditionellen Sexualtabus – „Entsublimierung“ – logischerweise zur psychosexuellen Gesundheit führen müsse.

Die Kritik Herbert Marcuses[3] und Reimut Reiches[4] an dieser vorgeblichen Befreiung als „repressive Entsublimierung“ und damit Zwang zum Konsum von zunehmend zu Waren verkommenden Sexualpraktiken wurde weitgehend ignoriert.

In dieser sogenannten „Sexuellen Revolution“[5] der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ging es unter dem psychoanalysierenden Motto, Abwehr (d. h. Sublimierungen) abzubauen, aber nicht um das Ausloten eigener individueller Fixierungen sondern um den Protest gegen gesetzliche wie auch moralische Schranken, die vor allem auch im Gefolge der Publikationen Michel Foucaults als bloße Machtausübung enttarnt wurden. Dazu gehörte vor allem die Distanzierung von den Verteufelungen von Homosexualität als Krankheit, Verbrechen oder Sünde. Zwar war noch nicht die Zeit der Outings gekommen, zwar gab es noch keinen „gay pride“, aber die „Anderen“ verkniffen sich weitgehend offene Diskriminierung.[6]

Erst durch das selbstbewusste Auftreten der Pioniere der österreichischen Schwulenbewegung wie dem Mediziner Reinhardt Brandstätter (1952 – 1992), dem Skandinavisten Kurt Krickler und dem Architekten Wolfgang Förster schämten sich Angehörige des Bildungsbürgertums ihrer Ressentiments; bildungsferne BürgerInnen jedoch stabilisieren ihr meist schwaches Selbstwertgefühl immer noch im Herabblicken auf Personen, die nicht mit ihnen in anonymen Massen verschwinden.

Die schrittweisen Beseitigungen der diskriminierenden Homosexualitätsparagrafen im Strafrecht öffnete aber auch Bestrebungen von Pädophilen um Anerkennung ihrer „sexuellen Orientierung“ analog zur Homo- oder Bisexualität. Darum bemühten sich vor allem der niederländische Psychologe Frits Bernard (1920 – 2006) aber auch der mit einem Wiener Orden ausgezeichnete Publizist  Karl Cervik (1931 – 2012). Dabei zeigt sich wieder eine „Sprachverwirrung“: Orientierung wird mit praktischem Verhalten gleichgesetzt – und dabei dessen fast immer traumatisierende Wirkung  verleugnet.

Die angebliche sexuelle Befreiung des Kindes

Im Bemühen, die kindliche Sexualität zu fördern anstatt durch Angstmache zu verkrüppeln, sahen viele Erwachsene ihre eigenen, durch Sexualhormonausschüttungen angeregte bzw. begleiteten, sexuellen Empfindungen und Handlungen als Norm an und wollten ihre Kinder möglichst frühzeitig mit dem vertraut machen, was sie selbst als lustvoll bewerteten (egal ob es sich in der Tiefenanalyse dann auch als solcherart bestätigen ließ[7]).

Sándor Ferenczis Abhandlung über die „Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind“ aus 1932 war – noch – kein Thema. Er zeigte darin auf, dass Kinder in der „Sprache der Zärtlichkeit“ sprächen, Erwachsene hingegen in der „Sprache der Leidenschaft“ antworteten.

Ich selbst habe bei Wiener Freunden, die sich der Mühl-Kommune am burgenländischen Friedrichshof anschlossen, erlebt, wie sie – aber auch Otto Mühl (1925 – 2013) – bar jeder professionell absolvierten Selbsterfahrung psychotherapeutische Fachliteratur auf eigene Weise deuteten – durchaus im Bewusstsein, Avantgarde einer besseren Sexualität als der derjenigen zu sein, die sie als Spießer und altmodische Anhänger der Kleinfamilie verachteten. Die Missbrauchsdimension war ihnen nicht bewusst.

Jahre später klagte mir ein mit massiven Missbrauchsvorwürfen konfrontierter katholischer Geistlicher, er habe doch die halbwüchsigen Burschen nur in eine „freie Sexualität einführen“ wollen – wie er es sich angelesen hatte, und außerdem wisse er doch gar nicht, ob er selbst hetero- oder homosexuell sei.

Anlesen konnte man sich damals die „neue“ Sicht auf sexuelle Orientierungen oder Fixierungen in Illustrierten und Buchveröffentlichungen von Journalisten wie Oswalt Kolle (1928 – 2010) oder dem aus dem angloamerikanischen Sprachraum remigrierten Ernest Borneman (1915 – 1995). Während Kolle (der sich im Alter mutig als bisexuell outete und Respekt für sein So-Sein einforderte) vor allem zärtlichere und wertschätzende sexuelle Umgangsformen propagierte, versuchte sich Borneman als Schöpfer neuer Sichtweisen quasi im Gefolge von Freud und Marx zugleich auf akademischem Boden Respekt, auf dem Boulevard jedoch regelmäßiges Einkommen zu verschaffen; dass er dabei seiner Fantasie freien Lauf ließ, kann man bei seiner Ehefrau Eva wie auch dem führenden Sexualwissenschafter deutscher Zunge, Volkmar Sigusch, nachlesen.[8] Seine gelegentlichen Auftritte auf universitärem Boden wie auch die Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung (ÖGS) wie auch eifrige Vorsprachen bei sozialistischen PolitikerInnen schufen ihm einen Nimbus der Unantastbarkeit seiner aus heutiger Sicht problematischen Thesen zur „Förderung“ kindlicher Sexualität durch Erwachsene, Zitat: „Ich plädiere nicht für das Recht des Erwachsenen auf Geschlechtsverkehr mit Kindern, ich plädiere für das Recht des Kindes auf Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen!“[9]

Kontrollwechsel

Mit Beginn der 1970 Jahre begann sich in Wien die unabhängige Frauenbewegung AUF[10] und ebenso der „Arbeitskreis zur Emanzipation der Frau“ im Rahmen der Jungen Generation der SPÖ[11] zu organisieren. Ich war zwar in beiden aktiv, aber noch nicht wirklich „aufgewacht“. Ausgangspunkt waren vor allem die sozialen Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts – sexuelle Ausbeutungen wurden erst etwa zehn Jahre später offenbart. Wieder waren es autonome Frauen, die sich für den ersten Notruf für vergewaltigte Frauen stark machten. Erst langsam outeten sich Frauen in Psychotherapien, Männer schwiegen noch – zu unvereinbar schien das “Opfer“-Sein mit dem traditionellen Männerrollenbild. Zu stark waren aber auch die folgenden Polarisierungen und Stereotypisierungen: was als Phase in einer Langzeitpsychotherapie meist notwendig ist, um die eigene Wehrhaftigkeit wieder zu erlangen, kann als prinzipieller Männerhass chronisch werden – vor allem, wenn Frauen selbst immer wieder soziale Diskriminierungen, Revierverletzungen, Abwertungen und strukturelle Gewalt erleben.

Es gibt viele Motive, weswegen Frauen Kontrolle über das „übliche“, d. h. geübte männliche Sexualverhalten anstreben: Schutz vor Gewalt, Schutz vor Verlassenwerden, Schutz vor Enttäuschungen … und da Frauen unbewusst meist ihre Mütter als Vorbild haben, übernehmen sie auch häufig deren biographisch geprägte Sichtweisen und Anklagen. Männern hingegen wird noch immer (medial) soldatische Härte und Brutalität als solitäres Modell angeboten, daher die „Identifikation mit dem Aggressor“ nahegelegt und die eigene Leiderfahrung abgestritten. Wird diese aber nicht bekannt (im Doppelsinn des Wortes), bleibt der Mythos vom sexuell unbeherrschbaren Mann aufrecht, dessen Dominanz manfrau nicht entgehen könne.

Der seit den 1990er Jahren vielfach behauptete „Missbrauch mit dem Missbrauch“ – d. h. taktische Öffentlichkeitsarbeit bzw. Eigen-PR für Beratung von Überlebenden sexueller Übergriffe – kann daher als subtile Gegenstrategie gedeutet werden, KritikerInnen männlichen Machtmissbrauchs abzuqualifizieren – oder aber das eigene naive Vertrauen an die Korrektheit von Autoritätspersonen zu behüten.

Mythenbildungen und Entmystifizierungen

Wie lange es dauerte, bis diese Autoritätshörigkeit erstarb, zeigte sich an den von Jahr zu Jahr zunehmenden Beispielen sexueller Übergriffe auf Zöglinge im kirchlichen Bereich. Sie wich der Empörung über das lange Schweigen der Beschuldigten, aber auch der Suche nach „der“ Ursache für dieses als „Ausrutscher“ gedeutete Fehlverhalten. Noch immer reagieren Medien und deren RezipientInnen mit Skandalisierung, wenn sich das sexuelle Interesse von Männern in „gehobenen“ Positionen auf Kinder[12] richtet. Die Folgen sind Leugnen, Schutzbehauptungen, Krisen-PR, Reuebekenntnisse, … aber keine Erklärungen der zu Grunde liegenden Dynamik. Sie ist vielschichtig: da steht die Suche nach dem Kind, das man selbst einmal war, neben dem „Reinheitskomplex“ der Unberührtheit, die Neugier nach dem Besonderen neben der Abgestumpftheit, die immer Extremeres sucht um noch Erregung zu verspüren, die Lust am Risiko neben der Erschöpfungsdepression, soziale Isolation neben der Angst vor „Beziehungsarbeit“ – vor allem aber die nicht gelernte Achtung und Wertschätzung von anderen Menschen, egal wie alt, gesund und „wissend“ diese sind. Es sind vor allem die sehr jungen, sehr bedürftigen und sehr vertrauensvollen, von denen dazu noch vermutet wird, dass sie einen nicht verraten werden.

Was den kirchlichen Bereich betrifft – aber ebenso andere soziale Welten – sei betont: es ist nicht der Zölibat (oder eine unwillige Partnerperson), was den vorgeblichen Triebstau (eine Autosuggestion!) hervorruft, oder der Wahn, alles, was nicht zur Fortpflanzung führt, sei keine Sexualität – es ist einfach Unwissen und Unwillen, andere Menschen nicht zu „benützen“. Mit Pädophilie – der „Liebe“ zum Kind – hat das wenig zu tun. Liebe verzichtet. Pädosexualität konsumiert, Pädokriminalität vermarktet.

Plädoyer für eine neue Art von Ungehorsam

Zu erkennen, dass Menschen mit gesetzlich ausgestatteter Autorität diese zur eigenen Lust oder Entspannung missbrauchen können, macht Angst – vor allem, wenn man die eigene Abhängigkeit in Kindheit und Jugend nicht verleugnet, aber auch nicht die zärtlichen Gefühle, die manfrau gerade für Personen mit Macht entwickeln können, deren Aufmerksamkeit schmeichelt und denen manfrau auch gerne zugehören mag, weil das das Selbstwertgefühl steigert. Es liegt in der Verantwortung des Erwachsenen, Heranwachsende nicht zu schädigen – von Herzen lieben darf man sie.

Zum Weiterlesen:

Perner Rotraud A. (Hg.), Missbrauch: Kirche – Täter – Opfer. Berlin Münster 2010.

Perner Rotraud A. (Hg.), Tabuthema kindliche Erotik.  Berlin Münster 2014.

Perner Rotraud A., Gewaltprävention im Alltag. Aaptos Verlag Matzen Wien 2015.

 

 

[1] Vgl. Rotraud A. Perner „Seid fruchtbar und mehret euch … Evangelische Sexualethik im 3. Jahrtausend“, Masterarbeit an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, 2015.

[2] Zitiert bei Kurt Weis, „Vergewaltigung: Auswirkungen und soziale Bedeutung“ In: R. Gindorf / E. J. Haeberle (Hg.), „Sexualität als sozialer Tatbestand“, de Gruyter Berlin New York 1986, S.  235.

[3] Herbert Marcuse „Triebstruktur und Gesellschaft.  Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud“, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1955/87.

[4] Reimut Reiche, „Sexualität und Klassenkampf“, Fischer TB Frankfurt 1971.

[5] Eigentlich „dritte“ Sexuelle Revolution nach der „ersten““ im 19. Jahrhundert, als Sexualität zum Wissenschaftsobjekt legitimiert wurde, und der „zweiten“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Künstler und Politiker die Phänomene menschlicher Sexualität aus der Tabuzone holten. Diese Entwicklung wurde durch die Nationalsozialisten als jüdische und artfremde Kulturentgleisung beseitigt.

[6] So habe ich an meinem Arbeitsplatz als Juristin wie auch Nationalökonomin „mitbekommen“, dass es jeweils einen schwulen Kollegen gab – aber man wusste – und ignorierte.

[7] So habe ich in der therapeutischen Arbeit wie auch im Unterricht bei BeraterInnen und PsychotherapeutInnen immer wieder einen Bewertungswechsel erlebt, wenn die Machtdimension mit in Betrachtung gezogen wurde.

[8] Eva Borneman „Leichen am Legendenwegrand“ in J. C. Aigner/ R. Gindorf (Hg.),  „Von der Last der Lust. Sexualität zwischen Liberalisierung und Entfremdung“; Volkmar Sigusch „Der Ratschläger“ in ds., „Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare“. Campus Verlag Frankfurt New York 1990, S.84 ff.

[9] Interview mit Borneman in „Aufrisse“ 12. Jg. Nr. 2/ 1991, s. auch R. A. Perner (Hg.), „Tabuthema kindliche Erotik“; S. 14.

[10] Federführend Ruth Aspöck und Erica Fischer, auch Freda Meissner, später Blau, war dabei.

[11] Federführend Eva Zgraja, später Kreisky, und Irmtraut Gössler, später Leirer, noch später Karlsson.

[12] Nach EU-Recht gelten alle unter 18jährigen als Kinder!