Rotraud A. Perner
Das verlorene Du
Liebe ist in unserer schnelllebigen Zeit der kurzfristigen Entflammung, Sex inbegriffen – quasi als Feuerlöscher –, gewichen.
Liebe braucht aber Zeit – Zeit der Aufmerksamkeit, Zeit des Spürens, Zeit der Hingabe und Zeit des Alleinsein Könnens und dennoch Bewahrens.
Liebe ist die ultimative Kraftquelle – sie wärmt nicht nur den Körper sondern auch Seele und Geist. Liebe macht Menschen strahlen – sie ist Licht im Dunkeln, sie ist reine Energie.
Sigmund Freud schrieb im „Unbehagen in der Kultur“, dass der Mensch nicht über „unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt“ und daher seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido [der Triebenergie, Anm. RAP] erledigen muss. „Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem Sexualleben.“[1] (Freud teilt Kulturarbeit und als Voraussetzung dazu Triebsublimierungen nur Männern zu, weil er Frauen dem wenig gewachsen vermeint.)
Was Freud nicht sah: die von ihm diagnostizierten „begrenzten Quantitäten psychischer Energie“ sind vermehrbar – wenn man von Liebesenergie durchdrungen ist. Und: diese Energie – die ich als Liebesenergie bezeichnen möchte im Gegensatz zu bloßer Triebenergie, die auf Abfuhr drängt – wächst und teilt sich mit. Der Volksmund weiß, „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“. (Das ist übrigens die Übersetzung Martin Luthers für das Jesus-Wort Mt 12,34 bzw. Lk 6,45 „Ex abundantia cordis os loquitur“ – wörtlich „aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“.[2])
Der Mund redet aber nicht nur – er singt auch, und er küsst. Eben weil das Herz, wenn es voll ist, übergehen – zum anderen hinübergehen – will, müssen Liebende seufzen, flüstern, lispeln, stammeln, keuchen … und die schönste, die kunstvollste Art ist der Gesang.
Der wiengebürtige Religionsphilosoph Martin Buber formulierte: der Mensch wird am Du zum Ich.[3]
Gesang richtet sich auf ein Du – einen anderen Menschen, die Natur, die gesamte Schöpfung. Hinaus in die Welt will der Mensch seine Liebe senden, aus weit offenem Herzen und mit ungeschützter Brust. Das ist die „schöpferische Expansion“[4] (ein Wort des deutsch-amerikanischen Erziehungswissenschaftlers Frederick Mayers, 1921/Frankfurt – 2006/ Wien), aus der Kinder der Liebe entstehen – und die geistigen Kinder der Kunst.
In der schöpferischen Expansion vergrößert sich das Herz und nicht nur das Herz. Man vergrößert sich auch seelisch, will sich verströmen – und wenn man dies auch geistig vollbringt, dann spürt man den Spirit, den Geist, den heiligen Geist … und dann will man diesen heiligen Zustand festhalten. Aber das geht nicht, denn der Geist – der Atem Gottes, die Ruach, der Wind – weht wo er will (Joh 3,8) und lässt sich nicht fangen.
Liebe erfahren, passiv wie aktiv, bedeutet zu lernen, Herzens-Bindung eingehen, bedeutet aber auch zu lernen, in der Liebe zu bleiben, auch bei Trennung, auch bei Verlust. (Lernen verstehe ich als Bildung von Wahrnehmungs- und Handlungsnervenzellen, und die bilden sich in der Resonanz bei der Begegnung mit anderen Lebewesen.)
Das ist auch der Unterschied, den Erich Fromm mit „haben oder sein“[5] beschrieben hat: der Habensmensch will Liebe und Geliebte besitzen um festzuhalten, der Seinsmensch will nur lieben – und daran kann ihn niemand hindern. „Liebe ist das Kind der Freiheit, niemals der Beherrschung.“[6] Denn „Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ (Röm 13,10). Aber Lieben kann wehtun.
Wenn man sich entschieden hat zu lieben, sein offenes Herz zu bewahren, dann währt die Liebe ewiglich – auch wenn es schmerzt, wenn das weit offene Herz Leere spürt, weil das antwortende Du in der sichtbaren Welt verloren ist. Aber wenn man weiß, dass diese Trauer ein Zeichen von Liebe ist, dann kann man den Verlustschmerz wieder rückverwandeln in Liebe, denn gelebte – nicht bloß erdachte, begehrte oder nur körperlich praktizierte – Liebe bleibt in jeder Zelle des Körpers erhalten – wenn man sich dazu entschieden hat.
Das verlorene Du ist eine selbstgedichtete Illusion: verlieren kann man nur, was man besessen hat. Wovon man vielleicht sogar besessen war.
Liebe – echte Liebe, nicht nur Verliebtheit oder Romanzensucht – geht nie in Verlust, höchstens in Vergessenheit. Man kann sie immer wieder finden: körperlich im Herzen und ausstrahlend in den ganzen Leib, seelisch in den emotionalen Gedächtnisspuren und geistig im Erkennen des Spiritus Sanctus: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm (1 Joh 4,16).
[1] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud Studienausgabe Band IX, S. Fischer, Frankfurt/ M. 1974/ 20039.
[2] Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen. In: Hans Joachim Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1963, S. 21.
[3] Martin Buber, Ich und Du. In: Martin Buber, Das dialogische Prinzip. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1984, S. 32.
[4] Frederick Mayer, Die schöpferische Expansion. In: Rotraud A. Perner / Elfriede Preschern (Hg.), Ich will wissen – Lust und Lernen. Löcker Verlag / Wien 1998, S. 51. Ff.
[5] Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Dtv, München 1979/ 19803,
[6] Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Ullstein, Frankfurt/ M. 1979, S. 49.
Foto: Nimo Zimmerhackl