Das Erbe der Väter und der Erbverzicht
Verschriftlichung des frei gehaltenen Vortrags von Rotraud A. Perner am Symposium „Das Erbe der Väter“ am 30. Juni 2017 im Bildungshaus Greisinghof in Tragwein.
Von dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich stammt das Schlagwort von der „Vaterlosen Gesellschaft“, mussten doch nach Ende des Zweiten Weltkriegs viele Söhne ohne Vorbild, Anleitung und Beistand eines Vaters aufwachsen – und die wenigen Heimkehrer waren meist kaputt an Körper und Seele. Allerdings scheint gegenwärtig der Weg weiter zu gehen in Richtung einer elternlosen Gesellschaft: eine Berufswelt, die elektronisch immer tiefer ins Privatleben der Erwerbstätigen eindringt, Flexibilität, Mobilität und laufende Weiterbildung (am Abend und am Wochenende) fordert, lässt auch die Mütter nicht mehr ungeschont. Wer hingegen keine Arbeit hat, wird in eine virtuelle Nebenrealität hinein verlockt, was zwar ein wenig vom Leid der Bedeutungslosigkeit ablenkt, aber weder einen Beitrag zur eigenen Weiterentwicklung noch zu der anderer liefert. Genau das aber erhöht eigentlich den Bedarf an Väterlichkeit: Verantwortung und Fürsorge für die nachkommenden Generationen und ebenso für all die Ressourcen, die das Leben fördern.
Von Erich Fromm („Anatomie der menschlichen Destruktivität“) stammt die Unterscheidung in zwei entgegengesetzte Lebensstile: den „biophilen“, der Leben und Lebendiges liebt und fördert, und den „nekrophilen“, der statt dessen von Totem fasziniert ist, Maschinen etwa und Technik. Fromm bringt dazu das Beispiel eines Menschen, der sich am Anblick der Natur erfreut, und demjenigen der sie schnell fotografiert und diese Abbilder daheim ins Album klebt. „Sein oder haben“.
Traditionell wurden Männer zu Totmachern erzogen – zu Kampfmaschinen oder Kanonenfutter. Gerda Lerner („Die Entstehung des Patriarchats“) verortet diese Entwicklung in der Zeit, als man vom Nahrung-sammeln zu Ackerbau, organisierter Jagd und Viehzucht überging, daher Reviere erkämpfen und Räuber abwehren musste. Das Ziel dabei war die bestmögliche Versorgung von Nahestehenden: Familie bzw. Clan. Erst mit den Staatenbildungen entstanden die mit Zunahme an Zahl immer anonymer werdenden Truppen und Heere, und damit das Ziel der Vermeidung personaler Beziehungen.
Die Jungianischen Psychoanalytiker Robert Moore und Douglas Gillette („König, Krieger, Magier, Liebhaber“) sehen im Kriegermann aber nur eine Form, wie sich Männlichkeit als Archetyp zeigt, und ob dieser ritterlich verwirklicht wird oder nur verwüstend, oder aber feige vermieden wird, ist jeweils eine Möglichkeit unter mehreren und ruft meist nach reflektierter Balance. Nur ist die Stimme der Vernunft halt leise. (Im Originalzitat heißt es bei Sigmund Freud übrigens Intellekt statt Vernunft.) Sie wird überhört.
In der „vaterlosen Gesellschaft“ ersetzen mediale Vorbilder den realen Vater, und diese zeigen entweder Konflikthaftes oder sublime Propaganda für kriegerisches Kampfverhalten auf Leben und Tod (z. B. wenn sie aus dem kriegführenden Land Amerika stammen). Wen wundert da das häufige „Vater“bashing der Töchter aber auch zunehmend Söhne, das eigentlich ein Bashing fühlloser und brutaler Männer darstellt – und vielfach aus der Enttäuschung gespeist wird, keinen liebenden Vater zu erleben, wenn man ihn bräuchte. Immerhin gehört der Vater, sofern überhaupt präsent, zu den ersten Liebesobjekten des Kleinkindes, vor allem wenn seine Umgebung diese Idealbilder beschwört. Oft tut sie es nicht. Die Sehnsucht bleibt – zumindest bis andere Bezugspersonen wichtiger werden, die Freunde, die Peer Group, die ideologischen Rattenfänger aber auch alles, was Freiheit verspricht jedoch Sucht auslösen kann und wiederum nur abhängig macht.
Moore und Gillette (und in ihrem Gefolge später auch Richard Rohr in „Die Masken des Maskulinen“) zeigen, dass der Entwicklungsweg des Mannes zum Königsein führen sollte, und dass dies die positiven Eigenschaften der anderen drei Archetypen umfasst: Wertvolles verteidigen, Sinn vermitteln, Zuwendung spenden. Dieses Erbe wird kaum mehr wahrgenommen, so wenig wird es gelebt. Stattdessen werden die negativen Seiten als Ziel vorgespielt: Herrschaft über andere, mit Waffen, Worten, Manipulation und ausbeuterischen Strukturen. Ich nenne dies den „Zweiten Sündenfall“ – nach dem „Ersten“, dem Herausfallen aus der Einheit (für Christen: in Gott) in die horizontal als zweigeteilt wahrgenommene Welt mit Gut und Böse – in die vertikale Trennung, in der der eine Teil über den anderen herrschen will – oder ihn beseitigen wie Kain den Abel. Diese Gefahr ist die fundamentale – deswegen steht sie auch gleich zu Beginn der biblischen Erzählung vom Erdenleben der Erdlinge, und sie wird als Problem von Männern gezeigt. (Das Wort Adam – hebräisch für Mensch – wird von adamah abgeleitet, was Erde bedeutet, während Chawwah, die hebräische Form von Eva, Leben oder auch Atem heißt.)
Die Herausforderung besteht darin, auf die Erbteile von Feindschaft, Herrschaft, List und Trug zu verzichten und stattdessen Einheit durch Einigung zu suchen, und das braucht Dialog. In meinem Buch „Sexuelle Reformation“ zitiere ich Martin Luther mit seinem Hinweis, das Gott Eva nicht aus den Füssen Adams geschaffen hat – damit er nicht über ihr stehe – und nicht aus seinem Kopf, damit sie ihn nicht beherrsche, sondern aus seiner Seite (das ist nämlich die ursprüngliche Bedeutung von sela! Rippe ist nur eine spätere verkleinernde Interpretation, wie ja alle Übersetzungen Interpretationen sind, daher auch meine). Ein klassisches Halbe-Halbe also.
So übersetze ich daselbst auch Gen 1,28 nicht quantitativ mit „mehren“ sondern qualitativ mit „fördern“, denn das sehe ich als die primäre Bedeutung von raba – dem Wortstamm, der auch in Rabbi steckt, und der Rabbiner ist der, der die anderen in seiner Gemeinschaft fördern soll.
Das Erbe der Väter, das wir suchen und annehmen sollten, liegt, wenn wir die Bibel als Sinngeberin nutzen wollen, vor dem Zweiten Sündenfall: Adam ist Vater von Kain und Abel und er zeigt sich nicht als Totmacher. Nicht physisch und nicht psychisch. Nur: Er zeigt sich im Bruderkonflikt überhaupt nicht.
Vater ist, wer Kinde zeugt und aufzieht. Letzteres nennt die amerikanische Soziologin und Psychoanalytikerin Nancy Chodorow („Das Erbe der Mütter“) „muttern“ und betont, dass diese Tätigkeit eine geschlechtsunabhängige ist.
Ein wahrer Vater ist, wer auch sein Mutter-Potenzial lebt (so wie eine wahre Mutter ihr Vater-Potenzial lebt, wenn sie für ihre Kinder kämpft).