Sexuelle Reife?
Gastkommentare in
„Die Presse“
Sich Gedanken darüber zu machen, wie die Zahl der durch sexuelle Gewalthandlungen in ihrer leibseelischgeistigen Integrität verletzten und oft auf Jahrzehnte hinaus traumatisierten Menschen minimiert werden könne, ist löblich, wenn auch leider nur zu oft illusionär. Sexuelle Gewalthandlungen sind immer dadurch gekennzeichnet, dass die sexuelle Selbstbestimmung verletzt wird – und insoferne sollten sich auch alle, die so genau wissen wollen, was für einen anderen gut ist, fragen, wie weit ihr gutgemeintes Wirken nicht bereits den Keim einer subtilen Vergewaltigung in sich birgt. In dem Wort „Erziehungsgewalt“ enttarnt sich die Gewalt von selbst: gegen ihre Erziehungsberechtigten können sich Kinder nur mit Hilfe der „Staatsgewalt“ wehren.
Aber wie wehrt man sich gegen eine – legistische – Staatsgewalt, wenn sie überfallsartig und emotionalisiert anstatt bedächtig und sachkundig – Betonung auf kundig! – versucht, ein traditionsverpflichtetes konservatives Image zu behaupten, statt sich zumindest so weit fortschrittlich offen zu zeigen, eine kontroverse Diskussion mit wahrscheinlich bisher unbekannten Argumenten anzuhören?
So mutig es ist, den Kampf gegen die Freier jugendlicher Prostituierter beiderlei Geschlechts anzusagen – so illusionär ist es zu glauben, dass man damit diesen „Markt“ zum Verschwinden bringen wird. Es werden nur die Preise steigen und die Szene wird tiefer in den Untergrund verschwinden. Bestqualifizierte Streetworker einzusetzen – und zwar sowohl für die psychisch wie sozial verletzten Jugendlichen, wie für die psychosozial behinderten (!) „Kunden“, wäre effektiver, allerdings teurer; das ergäbe nämlich konkretes Handeln in der Realität und nicht nur eine Willenskundgebung auf dem Papier des Strafgesetzbuchs.
Aus psychoanalytischer / ganzheitsmedizinischer Sicht sind es die Freier, die sexuell unreif sind: zur sexuellen Reife gehört nämlich die Lust und die Fähigkeit, sich mit einem gleich „starken“ Menschen seelisch und geistig zu verbinden – nicht nur körperlich. Leider zeigt die sexualtherapeutische Praxis, dass genau diese Kompetenz – trotz historisch erstmaliger weitgehender sozialer Gleichstellung der Menschen in unserem Kulturkreis – in einer sexuell permissiven Gesellschaft immer mehr verloren geht: sexuelle Reife zeigt sich in der – realitätsgerechten – Objektwahl ebenso wie im – gewaltverzichtenden – Prozedere sexueller Annäherung. Waren es im 19. und frühen 20. Jahrhundert die zahlreichen Eheverbote, die es meist erst älteren Männern ermöglichten, sich eine Partnerin „auszusuchen“, sind heute viele der alten Hürden der Trennung der Geschlechter gefallen. Werden Kinder und Jugendliche heutzutage ihren Alterskolleg/innen ferngehalten, deutet dies erfahrungsgemäß auf Isolierungsstrategien inzestuöser Erziehungsberechtigter hin. Und genau da taucht die Frage auf, welche Phantasien diese, aber auch die gesetzgebenden „Verfügungsberechtigten“ steuern – z. B. bei der Bewertung, wann jemand wozu sexuell reif sei.
Bereits 1994 habe ich unter dem Titel „Soll jugendliche Sexualität ausbeutbar bleiben?“ in dem von Familienministerin Maria Rauch-Kallat und Univ. Prof. Johannes W. Pichler herausgegebenen Grundsatzwerk “Entwicklungen in den Rechten der Kinder im Hinblick auf das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes” (Böhlau Verlag) die Frage aufgeworfen, „nach welchen Kriterien die angesprochene frühere Geschlechtsreife von Mädchen und demgegenüber die spätere von Burschen festgestellt wird: nach dem Eintritt von Menarche bzw. Polluarche – nach den ersten Sexualkontakten (wobei der Frage der Freiwilligkeit kritisches Augenmerk zu widmen wäre) – nach Selbsteinschätzung – oder nach dem äußeren Erscheinungsbild.“ Oder nach der Begutachtung sexualwissenschaftlich weder ausgebildeter noch erfahrener Angehöriger von Psychoberufen?
Ich empfinde es als neue Doppelmoral, wenn einerseits auf Plakatwänden und in anderen audiovisuellen Medien immer jüngere „Models“ als Leitbilder präsentiert werden und andererseits die Grenzen zwischen den Generationen dadurch verwischt werden, dass man nicht mehr in Würde und Wertschätzung altern darf, sondern sich mit Hilfe vom Hormonpäpsten und Kosmetikchirurgen ewige Jugend erkaufen soll. Diese Mechanismen gehören thematisiert: was wird als „normal“, als „in“, propagiert, und wie leistet man dagegen Widerstand! Daher ist vorausblickend sexualpädagogische Aufklärung gefordert und nicht hinten nach das Strafgesetz.