Mitfühlen
„Perners Notizen“ in der
„Wiener Zeitung“
Es wird auch für diejenigen, die nur durch die Berichterstattung über das jüngste Hochwasser „betroffen“ wurden, einige Zeit dauern, bis sie diese Bilder aus dem Gedächtnis bekommen. Damit meine ich Menschen, die mitfühlen können: die sich trauen, sich in eine andere Person nicht nur hinein zu „denken“, oder auch zu phantasieren, was in ihr vorgehen mag, sondern ganz konkret deren Gefühle so offen an sich heran kommen lassen, dass sie am eigen Leib spüren können, wie es dem anderen geht.
Das setzt allerdings voraus, die Gefühle, die da spürbar werden, auch auszuhalten. Das wagen wenige. Manche geben ihre erlernten Suggestionen „Durchhalten!“ oder „Zusammennehmen!“ weiter und halten so aufkeimendes Mitgefühl in Grenzen. Manche trösten sich und andere mit der Hoffnung auf überlegene Elternfiguren – die Politiker, die EU, die Versicherung … – die schon alles wieder zum Guten wenden werden; das ist als Selbstprogrammierung zu einer gesundheitsfördernden Verhaltenweise durchaus zu empfehlen. Sie schaffen damit eine Zukunftsperspektive mit Lichtblick – eine wirksame Strategie gegen den verengten Tunnelblick ins Tiefschwarze ohne Erhellung. Von Erwin Ringel geht die Legende, dass er, der begeisterte Musikliebhaber, selbstmordgefährdeten Menschen oft empfohlen habe, unbedingt noch eine bestimmte Opernaufführung in ein, zwei Wochen zu besuchen – umbringen könnten sie sich ja später noch immer …
Menschen hingegen, die nicht gewohnt sind, sich in andere einzufühlen, interpretieren – rein auf Grund von Denkprozessen und ohne Erfahrung konkreter Lebenswirklichkeiten – für sich wie auch für andere, welche Motive, Ursachen oder Ziele hinter den Reaktionen von Menschen stehen könnten. So kann man beispielsweise in einem Wirtschaftsmagazin lesen, es wäre nur eine volkswirtschaftliche Kategorisierung, die Schäden der Überflutungen mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu vergleichen – denn es würde vergessen, dass kaum Menschenleben zu beklagen wären. Auch wenn die Verzweiflung tausender Menschen, die ihr Vermögen verloren hätten, nicht kalt oder zynisch weggewischt werden dürfe – „Jahrhundertkatastrophe“ wäre es keine.
Ich finde es kalt und zynisch, rein wirtschaftlich zu „denken“ ohne zu „fühlen“, was diese Menschen erlebt haben. Was ich für ärger halte als die Schrecken eines Krieges, ist der Verlust der grundlegenden und bisher nicht in Frage gestellten Sicherheit, in einer kontrollierten und kontrollierbaren Umwelt zu leben.
Zu wissen, was Krieg bedeutet, lernen wir ziemlich früh: durch Erzählungen, Schulunterricht, Filme, Medienberichterstattung. Es kann angenommen werden, dass Menschen bereits im zweiten Lebensjahrzehnt über so viel Information verfügen, dass sie Kriegshandlungen oder Überfälle in ihr Weltbild einordnen können. Sie wissen, was es ist, was sie erleben – und dementsprechend wird schmerzliche „Trauerarbeit“ zur Bewältigung der übermächtigen Gewalt gelingen. Aber wer war wirklich vorbereitet auf derartig überfallsartige, übermächtige – „reißende“, „erdrückende“ – Wassermassen?