Anzeigepflicht
Gastkommentare in
„Die Presse“
Manche Ärzte sagen, eine Neuregelung wäre gar nicht notwendig, weil sie ja ohnedies immer schon verpflichtet wären, Gesundheitsschäden durch „Quälen und Vernachlässigen eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen“ unverzüglich den Sicherheitsbehörden anzuzeigen – es ginge also nur um Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von Law und Order.
Demgegenüber zeigen sich vor allem die systemisch – mit dem ganzen Familiensystem – arbeitenden Angehörigen von Sozial- und Gesundheitsberufen inklusive einschlägig erfahrenen Psychologen und Psychotherapeuten entsetzt, dass Rache- und Strafbedürfnisse nach rascher Aktenerledigung vor überlegter Ursachenerhebung und gemeinsam zu findender Problemlösung rangieren sollten.
Verschiedene Blickwinkel, verschiedene Blickrichtungen: erstens die Bedürfnisse von Staat und Staatsbürgern nach Rechts-Ordnung, zweitens die Bedürfnisse der Betroffenen – der betroffenen Familienangehörigen wie der damit befaßten Professionals – menschliches Leid zu beseitigen, zu verhindern oder zumindest klein zu halten. Ich möchte eine andere Sichtweise hinzufügen: einerseits das offensichtlich vorhandene Misstrauen gegenüber den im Feld familiärer Gewalt Arbeitenden, sie betrieben l’art pour l’art, andererseits die Illusion, man müsste nur eine Befehlskette von angedrohten oder durchzuführenden Negativfolgen zum Übeltäter aufbauen, dann gäbe es keine Probleme mehr. Das ist manchmal effizient; meist ist es das aber nicht.
Unter Druck neigen wir alle – professionelle Helfer inbegriffen – zu vorschnellen Panikreaktionen, die zwar Aktivität beweisen, tatsächlich aber selbst wieder Gewalt bedeuten. Dabei umrahmt die Erlaubnis zur Ausübung von Staatsgewalt nur zu oft eigene Neigungen zu Gewalttätigkeit (oder eigenes Ignorieren). Reflektieren, nicht – nur oder nicht sofort – agieren lautet hingegen die Lernaufgabe nicht nur für den strafrechtlich Auffälligen, sondern auch für diejenigen, die ebenfalls in Lebensläufe eingreifen. Ärzte tragen ohnedies viel zu oft einsam Verantwortung, stehen unter vielfachem Druck – nicht nur aus der Patientenschaft, sondern auch seitens der Angehörigen – wir sollten sie nicht noch mehr unter Druck setzen.
Ich schlage vor, zwischen der Fachperson, die Kenntnis von einer strafrechtlich relevanten Miß-Handlung erlangt, und den Sicherheitsbeamten, deren Aufgabe die Sicherung der Beweise für ein allfälliges – nicht immer erfolgendes! – Justizverfahren ist, eine interdisziplinäre Zwischenstelle zu schalten, die ermöglicht, Anlassfall, Zielarbeit, Bedenken zu dokumentieren UND die ethische Position festzuhalten, die aufzeigt, wie weiter vorgegangen wird. Beispielsweise mit polizeilicher Anzeige. Diese Fragen sind nämlich ethische – und Gewissenserforschung braucht Überblick , daher mehr als nur einen Blickwinkel, und damit Zeit.
Auch Psychotherapeuten, die bekanntlich unter absoluter Verschwiegenheitspflicht stehen, also keinerlei Inhalte aus der therapeutischen Arbeit weitergeben dürfen, stehen manchmal vor dem ethischen Problem der Anzeige bzw. Drittanzeige (das bedeutet, eine gefährdete Person, z. B. ein auserkorenes Mordopfer, warnen zu sollen). Sich auf Schweigegebote oder Anzeigepflichten zurückzuziehen im Sinne „Ich habe ja nur meine Pflicht erfüllt“ enthüllt nur die Überforderung durch einsames Entscheidenmüssen. Teamentscheidungen, wie sie in vielen Institutionen des Gesundheitswesens üblich sind, helfen, die Entscheidungskriterien klar zu legen.
Ich schlage die Einrichtung interdisziplinär – Polizeijurist, systemisch ausgebildeter Psychotherapeut, Mediator oder Konfliktregler – besetzter Dokumentationszentren von Gewalt vor. So könnten wöchentlich wechselnd Fachleute aus ihren ursprünglichen Dienststellen und Praxen „ausgeborgt“ werden, was nicht nur der fächerübergreifenden Fortbildung und besseren Vernetzung dienen würde, sondern vor allem auch gegenseitiger Unterstützung / Kontrolle und gegenseitigem Respekt.