Rotraud A. Perner
„Von Rachephantasien und Heldenillusionen“
Hass kann den Hass nicht austreiben! Das gelingt nur der Liebe.
Martin Luther King
Erschienen in: Die Furche, 04-08-2016
Bei den zielgerichteten Massentötungen an Schulen der vergangenen Jahre war die Verbindungslinie zu erlittenen Demütigungen durch Lehrkräfte und Mitschülerschaft klar erkennbar. Wildfremde Jugendliche zum Tatort anzulocken – wie bei der Wahnsinnstat von München geschehen – ist neu. Woher dieser Hass?
Hass kann, poetisch interpretiert, als ein Selbstheilungsversuch angesehen werden, aus empfundener Erniedrigung in Größengefühle empor zu wachsen. Man hält die Luft an und pfaucht sie, sich selbst quasi zum Lauf einer Schusswaffe verengend, dorthin aus, wo das Hassobjekt vermutet oder gesichtet wird – diejenigen, denen es vermuteter Weise besser geht – die etwas haben, was einem selbst schmerzlich mangelt: eine befriedigende Zukunftsperspektive. Ich wähle bewusst dieses Eigenschaftswort, weil der Begriff Friede drinsteckt.
Vorschulkinder pflegen nur zu protzen: Sie verengen sich noch nicht, sondern blähen sich bloß auf – sie „geben an“. Ältere Kinder „teilen aus“ und entlasten sich damit von der aufgestauten Wut.
Um in Wut zu geraten, muss innere Erregung aufgebaut und gesteigert werden. Das schaut man sich von anderen – Eltern, Geschwistern, Nachbarn oder Filmhelden – ab. Durch das Schlagwort – bereits ein Gewaltbegriff! – vom „Wutbürger“ ist Wut plötzlich gesellschaftsfähig geworden. In der Psychoanalyse sprechen wir von „oraler“ Wut und ordnen sie der Entwicklungsstufe des hungerdurchtobten Säuglings zu: Wut ist „ungerichtet“, d. h. sie hat kein Ziel, sie tobt nur Frust aus. Im Gegensatz dazu steht der „anale“ Zorn: In der auf die orale Phase folgenden sogenannten analen Phase ist die Muskulatur des Kleinkindes bereits so erstarkt, dass zielgerichtet geschlagen, gebissen, gezwickt, gekratzt, zerstört werden kann. Und das wird lustvoll ausagiert – bis das Kind gelernt hat, seine Kräfte mit Worten auszudrücken und nicht nur mit den Fäusten. Dazu braucht man wie bei allem, was man „können“ sollte, Vorbilder, Übung und – Anerkennung. Und gerade an dieser mangelt es – und das muss man auch erst aushalten lernen wie ebenso den Mut, Respekt einzufordern.
Vor der – von mir so genannten – „Selbstbehauptungswende“ 1970 hießen die Erziehungsleitlinien Gehorsam und schweigende Unterwerfung für „die unten“ und Befehls- und Strafgewalt für „die oben“. Mit den politischen Strömungen zu Mitbestimmung im Betrieb, Partnerschaft in Ehe aber auch Schule und Bürgerinitiativen begeisterten sich viele für das Ideal des „mündige Bürgers“ – nur die zum Dialog nötigen Mundfertigkeiten wurden weder propagiert noch vorgelebt, ganz im Gegenteil, wie das Beispiel der gleichzeitig aus den USA – einem kriegsführenden Land! – stammenden Action-Filme bewiesen. Deswegen habe ich in dem von mir 2008 an der Donau Universität entwickelten Masterstudium PROvokativpädagogik (nicht zu verwechseln mit dem Nachfolgeversuch Provokationspädagogik!) dem Dialog nach Martin Buber und David Bohm ein ganzes Modul gewidmet: In der ohnedies schwierigen Zeit des Erwachsenwerdens braucht es Menschen, die den Mut haben, auf diejenigen zuzugehen, die „anders“ sind – egal aus welchen Gründen – und sie mit Aufmerksamkeit und Interesse zu „beantworten“ – nicht mit Kritik, Drohung oder Ausgrenzung. Die aber auch den Mut haben, respektvoll Grenzen zu setzen bzw. aufzuzeigen, wenn solcher verletzt werden. Beides erfordert eine andere Art von Wahrnehmung, als die durch Berufs- und sonstigen Zeitdruck oder Handy-Blick und Walkman-Laut verminderte. Die kann man sich nur in Situationen der Sicherheit erlauben, daher nicht im Straßenverkehr, am Bahnübergang oder unter Menschenmassen.
Das sogenannte subjektive Sicherheitsgefühl ist leider eine Selbsttäuschung. Es dient zwar der Angstabwehr – doch Angst ist ein Warnsignal, daher hilfreich. Chronisch sollte sie nicht werden, sondern durch den Mut zur Realitätssicht mittels Überprüfung möglicher Gefahrenquellen ausgeglichen werden. Wir tragen aber auch alle einen „inneren Rächer“ in uns – und der wächst sich zum Monster aus, wenn man nicht darauf achtet, welche – nicht nur psychischen – Verletzungen er überkompensieren will. Das betrifft auch die Verletzung von Werten, politischen, religiösen, etc. – und auch nationalen.
Das ist das Gefährliche an Massenmördern wie Brejvik: Dass sie nationale Überlegenheit propagieren – unbesehen wie kriminell mit dieser Argumentation gehandelt wird. Aus meiner Sicht zeichnete der Gedenktag an Utoya die direkte Linie zu der Münchner Massenhinrichtung – denn diese brauchen keinen „aktuellen“ Auslöser wie die School Shootings. Sie werden langfristig geplant. Wir in Österreich brauchen nur an Franz Fuchs zu denken.
Wann immer wir planen, läuft ein geistiger Film – und der orientiert sich an realem Vorbild-Repertoire. Dazu zählen Rachephantasien, aber auch Heldenillusionen.
Was aber wirklich wichtig ist und deshalb immer wieder betont werden sollte – vor allem wenn auf Ehre berufen wird: Ehrenhaft ist nur, unter Verzicht auf Hinterhalt und Hinterhältigkeit offen Konflikte anzusprechen und auf Verträge hinzuarbeiten. Sich vertragen bedeutet Verträge zu schließen. Dazu muss eine Konfliktpartei – die, die als erste das Konflikthafte erkannt hat – auf die andere zugehen. Das kann jede und jeder von uns sein – wir müssen es nur in wertschätzender Sprache tun – und nicht dröhnen oder dramatisieren, wie es viele Politiker tun, um sich durch das Gejohle der Massen „sicher“ – nämlich bestätigt – fühlen zu können. Wir sind auch innerhalb von Massen nicht mehr sicher.
Wer meint, Sicherheit wäre eine Bringschuld von Polizei oder sonstigen „Autoritäten“, wird jetzt daran erinnert, dass 50 % oder mehr an Personenschutz unsere eigene Aufgabe darstellt.
Sich selbst zu behüten setzt allerdings ein Minimum an Selbstliebe voraus – und die lernt man in den ersten ca. sechs Lebensjahren und „in Beziehung“: Was Eltern aus Unwissenheit oder Zeitnot nicht schaffen, kann und soll Aufgabe von uns allen sein und nicht ausschließlich an Bildungs- und Sozialeinrichtungen wegdelegiert werden.
In Krisenzeiten – und Adoleszenz ist eine solche, wie auch Arbeitslosigkeit, Armut, wiederholte oder permanente Diskriminierung in Zeiten, in denen unentwegt Erfolgsbilder vorgegaukelt werden – sind wir alle gefährdet, unsere psychische Stabilität zu verlieren. Manche flüchten dann in Drogen, Alkohol mitgemeint, und andere in Rächerphantasien, wie sie medial angeregt werden, Selbstopfer inklusive. Nur wer liebt – das Leben liebt – kann Hass überwinden.